Studie: Ungarn hat die EU getäuscht

Jetzt ist es wissenschaftlich belegt: Auch nach der halbherzigen Korrektur durch das Verfassungsgericht stehen Ungarns neue Mediengesetze in krassem Widerspruch zu Europäischen Normen und Standards. Jetzt hängt es einzig von der EU ab, ob das so bleibt.

12.1.2012 – Als das ungarische Parlament vor gut einem Jahr mit der Zweidrittelmehrheit der Regierung ein neues Mediengesetz beschloss, das die Freiheit der Presse verstümmelte, die öffentlich-rechtlichen Sender zwangsvereinte und eine mächtige zentrale Aufsichtsbehörde erschuf, da hagelte es Kritik aus aller Welt – und schließlich rügte auch die EU das neue Regelwerk, weil sich ihr Mitgliedsland Ungarn zu weit vorgewagt hatte.

Doch die EU-Kritik verstummte, nachdem die Regierung in Budapest ein Papier präsentiert hatte, das die Mediengesetze anderer EU-Staaten analysierte und zu jenem Schluss kam, der noch heute gebetsmühlenartig heruntergeleiert wird: Das ungarische Mediengesetz sei in allen Punkten vergleichbar mit Mediengesetzen anderer Europäischer Staaten und somit EU-konform, so die Regierung von Ministerpräsident Viktor Orbán vor einem Jahr.

Unter der Leitung von Amy Brouillette und mit Unterstützung der Open Society Foundation entstand die CMCS-Studie

Nach einer in der vergangenen Woche vorgestellten Studie des Budapester Centre for Media and Communication Studies CMCS haben die Ungarn die EU grob getäuscht.  In praktisch keiner der insgesamt 56 angeführten Gegenüberstellungen, so die zweihundert Seiten starke, in 20 Europäischen Ländern zeitgleich durchgeführte Arbeit, lässt sich ein Vergleich belegen. Viele Maßnahmen des Mediengesetzes sind gar europaweit „einmalig“, etwa die Pflicht zur Ausgewogenheit. Die Regierung habe die Vergleiche „in wesentlichen Teilen ungenau“ gezogen, so die Studie wissenschaftlich vorsichtig.

So seien etwa neun Beispiele dafür angeführt worden, dass es auch in anderen EU-Staaten eine ähnlich strenge Medienaufsicht gäbe wie an der Donau. Doch bei genauer Betrachtung waren sechs der angeführten Behörden gar nicht mehr existent, drei weitere arbeiteten mit einer völlig anderen Struktur. Auch drei Vergleiche zur zentralistischen Struktur der Medienaufsicht zerfielen zu Staub – keine einzige ist für die Kontrolle aller Mediengattungen zuständig wie es in Ungarn der Fall ist.

Besonders die Allmacht der ungarischen Medienaufsichtsbehörde NMHH sollte mit dem Positionspapier der Regierung verteidigt werden. Hierzu führte sie vor einem Jahr ganze 26 Vergleiche ins Feld, von denen sich alle als haltlos erwiesen haben – mit einer Ausnahme: Die Ernennung von Schlüsselpersonen im öffentlich-rechtlichen Rundfunk durch den Präsidenten ist auch in Frankreich gängige Praxis. Überall sonst, wo Personalrochaden gelegentlich vorkommen, wird dies öffentlich heftig kritisiert – kein Beispiel, an dem man gemessen werden sollte, so die Studie.

Die Rechtfertigung der Regierung, „das Mediengesetz sei mit anderen Mediengesetzen in Europa zu vergleichen, ist nicht aufrechtzuerhalten.“, folgert die CMCS-Studie. „Die meisten Bestandteile des neuen Mediengesetzes sind einmalig“, Ungarns Medienkontrollbehörde gar „beispiellos“. Das Zusammentreffen von Behördenmacht, Behördenstruktur und Sanktionsmöglichkeiten sei unvergleichbar stark.

Annamária Szalai waltet über die Medien in Ungarn. (MTI)

Daran hat auch das Urteil des ungarischen Verfassungsgerichts vor wenigen Wochen nichts geändert. Genau betrachtet ist es eine einzige Person, die heute über Wohl und Wehe der gesamten ungarischen Medienlandschaft richtet: Die von Ministerpräsident Orbán für neun Jahre ernannte ehemalige Chefredakteurin des Erotikmagazins Miami Press, Annamária Szalai, ist sowohl Vorsitzende der Medienbehörde wie auch des Medienrates. Ihr unterstellt sind einige wenige Parteisoldaten der regierenden Zwillingspartei Fidesz-KDNP, die Szalai nach Belieben fallen lassen und ersetzen kann.

Szalai’s Behörde kann ohne gerichtliches Veto Sendelizenzen vergeben und sie verweigern, wie jüngst bei Klubrádió und dem Parlamentsfernsehen P+. Sie kann Strafen von bis zu 200 Mio Forint [640.000€] verhängen – was sie bei RTL getan hat, weil ihr die ungarische Big-Brother-Staffel missfiel. Sie kann jedweden Mangel an Ausgeglichenheit ahnden, obwohl niemand weiß, was man darunter zu verstehen hat. Und sie kann das Führungspersonal des öffentlich-rechtlichen Medienapparates nach Gutdünken ernennen und fristlos feuern.

Dabei hatte das Verfassungsgericht den Einfluss der Parteien auf die Medienaufsicht 2009 für verfassungswidrig erklärt. Der Medienrechtsprofessor László Majtényi, damals unabhängiger Medien-Ombudsmann, hatte die Sache noch während der Vorgängerregierung angestoßen. Heute rächt sich die Regierung an ihm, indem Ministerpräsident Orbán seinem Sohn die Ernennung zum Hochschulprofessor verweigert – ein seit Jahrzehnten einmaliger Fall von staatlicher Willkür.

Auch der damalige und heutige Vorsitzende des Verfassungsgerichts, Péter Paczolay, hat gegen diese Politik resigniert. Ein ganzes Jahr lang ignorierte er die Flut von Eingaben gegen das neue Mediengesetz und ließ die aggressive Vereinnahmung der Medienaufsicht durch die Regierung gewähren. In einem Interview mit der ungarischen Zeitung hvg beweint er die schwierige Lage des Gerichts aber vor allem sich selbst. Zur Gefahr einer von oben dirigierten Medienlandschaft sagt der oberste Richter Ungarns kein einziges Wort. Jetzt kann nur noch die EU Ungarns Medien retten.

„Wenn Annamária Szalai etwas will, geschieht es, wenn sie es nicht will, geschieht es nicht“, sagt ein Insider aus dem Umfeld der Behörde. Die NMHH führe faktisch die Politik der Regierung aus, anstatt die Freiheit und Vielfalt der Medien zu organisieren. „Es ist die totale Kontrolle und Überwachung“, ausgeführt von einer bedingungslos loyalen Parteigefährtin Viktor Orbáns, die überdies schwer krank ist und im vergangenen Jahr viele Monate im Krankenhaus verbracht hat. In der Zwischenzeit bleibt so manches liegen.

So endete der Fall des Nachrichtenfälschers Dániel Papp mit einem Freispruch ‚durch Zeitablage‘. Der Reporter des öffentlich-rechtlichen TV-Senders M1, Dániel Papp, hatte im April 2011 einen Nachrichtenbeitrag zum Wohle der herrschenden Regierungsmeinung gefälscht und wurde daraufhin zum Chef der TV-Nachrichten ernannt [siehe]. Kurze Zeit später wurde Papp von mehreren Personen bei der Medienbehörde angezeigt – denn Nachrichtenfälschung ist auch nach dem geltenden Mediengesetz nicht erlaubt.

Behördenchefin Annamária Szalai ließ die Anzeigen lange liegen, um im Herbst mitzuteilen, die Eingaben hätten wegen formaler Fehler abgewiesen werden müssen. Stargarten hat, auf Initiative des  Blogs Pusztaranger, sofort darauf reagiert und erneut Anzeige bei der Behörde eingereicht – nur um jetzt aus einem höflich formulierten Schriftsatz zu erfahren, dass das Verfahren die Eingabefrist von einem halben Jahr überschritten habe und daher eingestellt werden musste. Es waren genau jene sechs Monate, in denen die Anzeigen gegen Papp unbearbeitet auf Szalais Tisch gelegen haben.

Das Schreiben der NMHH im Fall Dániel Papp: NMHH-Papp

Die CMCS-Studie im Original:  https://cmcs.ceu.hu/sites/default/files/field_attachment/news/node-27293/Hungarian_Media_Laws_in_Europe_0.pdf