Journalisten verlieren Quellenschutz

13.11.2011 – Ein Präzedenzfall in Budapest zeigt: Der Informantenschutz für Journalisten in Ungarn ist ausgehebelt. Dank des neuen, weltweit kritisierten Mediengesetzes der rechtsnationalen Regierung ist die investigative Recherche praktisch unmöglich.

Tamás Bodoky war über ein Jahrzehnt ein gefeierter Enthüllungsjournalist beim größten Nachrichtenportal des Landes, legte Skandale der Regierung offen, wurde von der gegnerischen Fidesz hofiert und erhielt den Pulitzer Preis. Ehe ihn im April 2010 plötzlich die Kündigung ereilte, als er über einen Immobilienskandal schrieb, dessen Protagonisten dem gerade frisch gewählten Ministerpräsidenten Viktor Orbán nahestanden. Seinem Chefredakteur gefiel das plötzlich nicht mehr, und er strich eigenwillig ganze Passagen aus dem Beitrag. Der Wind in Ungarn hatte sich jäh gewendet.

Als Bodoky dann beim kleinen Rest anspruchsvoller politischer Medien in Budapest anklopfte, wurde er ebenfalls abgewiesen. Man könne es jetzt nicht wagen, jemanden wie ihn zu beschäftigen, die Zeiten seien „nicht so“, hieß es aus den Verlagen. Also machte er sich selbstständig und gründete die Informationsplattform Átlátszó, zu Deutsch ‚Transparent‘, eine Art Wikileaks für Ungarn.

Nach dem Vorbild von Nonprofit Enthüllungsseiten wie ProPublica, CIR und CIJ will Bodoky nun das tun, was er am besten kann: Skandale enthüllen und die Politik in Ungarn zur Transparenz zwingen – diesmal mithilfe von Spendengeldern und mit der ehrenamtlichen Hilfe einer Heerschar von Anwälten, die seine Sache unterstützen. Regelmäßig fordert er Dokumente von Behörden, öffentlichen Einrichtungen und kommunalen Dienstleistern ein, um Korruption und Misswirtschaft bloßzustellen – und ebenso regelmäßig bekommt er sie nicht und klagt.

Die Sonne scheint über Brokernet. Derweil verfinstert sich die Pressefreiheit.

Doch schnell wurde Bodoky selbst zum Beklagten. Im Juli des Jahres, kaum hatte er seine neue Tätigkeit aufgenommen, flatterten brisante Unterlagen in seine Hände, die ein Informant unter Wahrung seiner Anonymität geleakt hatte. Es waren Listen  mit Kundennamen und Transaktionsdetails der Budapester Investmentberatung Brokernet Hungary, die ein Unbekannter schon 2010 gehackt und entwendet hatte – darunter auch steuerrelevante Informationen wohlhabender Anleger.

Bodoky stellte anderntags fünf Zeilen zum Thema ins Netz, dazu den geschwärzten Auszug eines Originaldokuments. Der Rest des Materials wanderte auf eine verschlüsselte Festplatte. Am nächsten Morgen klopfte die Polizei an seiner Tür und bat um Herausgabe, die er mit dem Hinweis auf den journalistischen Informantenschutz  verweigerte. Der ermittelnde Beamte war jedoch gut vorbereitet. Er kannte den Passus im neuen Mediengesetz auswendig und belehrte Bodoky, bei herausgehobenen Straftaten habe die ermittelnde Behörde das Recht, den Zeugen auf Herausgabe seiner Quelle zu verpflichten – ganz ohne richterlichen Beschluss.

Zwei Tage später saß der Journalist auf der Wache. Drei Polizisten hätten auf ihn eingewirkt, ihn vehement bedrängt, er solle den Informanten nennen, sonst komme er wegen Falschaussage in besonders schwerem Fall ins Gefängnis, erinnert er sich. Doch Bodoky blieb standhaft und gab lediglich die Festplatte mit den Daten heraus, um einer bereits schriftlich vorliegenden Hausdurchsuchung und Beschlagnahme zu entgehen.

Drei Monate später kam die Festplatte zurück. Sie war offensichtlich mit dem Schraubenzieher traktiert aber nicht ausgelesen worden. Denn zwischenzeitlich hatte sich der geheime Informant selbst gestellt, und die Sache sollte zu den Akten wandern. Nicht jedoch die Sache Quellenschutz. Bodokys Beschwerde bei der Ermittlungsbehörde wurde weiter verfolgt und schließlich formal abgewiesen. Von der Staatsanwaltschaft erhielt er letztinstanzlich den Bescheid, bei Strafsachen könne sich der Journalist nicht auf den Quellenschutz berufen, weil es diesen nach dem neuen Mediengesetz nicht gebe. Und vor Gericht wurde auch die Beschlagnahme des Materials für rechtens erklärt.

Dieser Präzedenzfall zeigt: Es gibt für Journalisten in Ungarn keinen Informatenschutz, obwohl die allmächtige Medienbehörde NMHH nie müde wird zu betonen, der als Gummiparagraph gegeißelte Gesetzestext sei in Wirklichkeit gar nicht so restriktiv, wie seine Kritiker glaubten. In der Tat wird das Gesetz aber noch strenger ausgelegt, wie die aktuelle Praxis zeigt. Bodoky will jetzt in Strasbourg klären lassen, ob es mit den Europäischen Grundwerten vereinbar ist und hat der Medienbehörde in Budapest einen Vorschlag zur Modifizierung des Gesetzes vorgelegt.

Vor der Einführung des neuen Mediengesetzes durch die Regierung Viktor Orbán musste in Ungarn kein Journalist seine Quellen verraten – nicht einmal in den launigen Zeiten des Gulaschkommunismus. Allerdings hat sich bis heute eine Kultur der Angst und Anpassung etabliert, in der sich die meisten Journalisten auf Gedächtnisverlust und den ‚Unbekannten auf der Straße‘ beziehen, um nicht offen gegen den Druck der Exekutive auftreten zu müssen. Bodoky, der mit offenem Visier arbeiten will, muss nun fürchten, trotz erledigter Sache bestraft zu werden – für die Behinderung der Ermittlungen mit bis zu einer halben Million Forint, rund drei Monatsgehälter eines investigativen Journalisten in Ungarn.